Der tiefe Absturz des Hamburger SV vom Europa-League-Halbfinalisten hin zu einem zerrütteten Zweitligaklub: Es ist eine beispiellose Geschichte voller Misserfolge.
HSV: Wie es so weit kommen konnte
Nirgendwo sonst im deutschen Profifußball ist ein so geschichtsträchtiger Traditionsverein in derart kurzer Zeit durchgereicht worden wie der HSV. Die Gründe dafür sind vielfältig, ziehen sich aber wie ein roter Faden durch die Geschichte der letzten zehn Jahre: Missmanagement, Fehlinvestitionen, ständige personelle Wechsel und ein launischer Investor, der das vereinspolitische Durcheinander maßgeblich mitbeeinflusst hat.
Der erste große Bruch beim HSV ist auf den Sommer 2009 zurückzuführen, als der HSV die beste Saison seit dem Sieg im Europapokal der Landesmeister im Jahr 1983 spielte. Doch nach dem Ausscheiden im DFB-Pokal-Halbfinale und dem Aus in der Europa League, jeweils ausgerechnet gegen den Erzrivalen Werder Bremen, überwiegt in Hamburg die Enttäuschung.
Bastian Reinhardt statt Matthias Sammer
Der bis dahin beliebte und durchaus erfolgreiche Sportchef Dietmar Beiersdorfer, unter dessen Regie Spieler wie Rafael van der Vaart, Daniel van Buyten, Nigel de Jong oder Jerôme Boateng für die Rothosen aufliefen, schmeißt nach der Saison hin und verlässt den HSV. Der Auslöser für seinen Rücktritt: Sein Vorstandskollege Bernd Hoffmann habe sich zu stark in seinen Bereich eingemischt und Kompetenzen überschritten.
"Der Hauptgrund für die Eskalation war, dass bei allen Beteiligten nach den Werder-Wochen die Nerven blank lagen: bei Trainer Martin Jol, bei Didi und bei mir", sagte Hoffmann damals.
Dem HSV gelingt es fortan nicht, die Lücke im sportlichen Bereich zu schließen. Kandidaten wie Matthias Sammer sagen dem Klub kurzfristig ab, die Suche nach einem Sportchef gestaltet sich schwierig. Dieses Problem löst der Aufsichtsrat im Mai 2010 von Aktionismus gedrängt mit einer sonderbaren Entscheidung: Er bestellt den bisherigen Praktikanten der Presseabteilung, Bastian Reinhardt, damals 35, einen mäßig begnadeten Verteidiger, zum neuen Sportvorstand.
Auf Funktionäre mit Stallgeruch zu setzen erweist sich in der Hansestadt als probates Mittel, um die Öffentlichkeit kurzfristig zu beruhigen, bringt in der Sache aber keinen nachhaltigen Erfolg. Reinhardt hat nicht das Standing, um mürrischen Weltstars wie Stürmer Ruud van Nistelrooy die Stirn zu bieten und ist den Trainern keine große Hilfe.
Hoffmann zieht Investor Kühne an Land
Die ständige Unruhe im Verein, in dem die Ultras und der damals mächtige Supporters Club mit ihren Gefolgsleuten im Aufsichtsrat die Macht übernommen hatten, führt im Frühjahr 2011 zur vorzeitigen Entlassung des Vorstandsvorsitzenden Hoffmann. Mit ihm war der HSV zwischen 2003 und 2011 zum internationalen Spitzenklub aufgestiegen und feierte jährlich Umsatzrekorde in dreistelliger Millionenhöhe.
Bei den Fans war der gebürtige Leverkusener allerdings nie sonderlich beliebt. Spätestens nachdem er mit Klaus-Michael Kühne einen Investor an Land zog, der Geld für neue Spieler bereitstellen sollte, erklärten ihn die Ultras zum Feind.
Der Einfluss des Milliardärs hat seit seinem ersten Investment in 2010, als er unter anderem den Mittelfeldspieler Gojko Kacar von Hertha BSC finanzierte, stetig zugenommen. Die finanzielle Lage des HSV verschlechterte sich mit jedem weiteren Jahr ohne internationalen Fußball. Zu hohe Kaderkosten und zahlreiche Flops auf dem Transfermarkt haben die Abhängigkeit vom Geld des Investors erhöht.
Als sich Kühne 2012 öffentlich in die Transferplanungen der Rothosen einmischt, die Rückkehr von Rafael van der Vaart fordert, und sich damit letztlich gegen die Empfehlung des sportlichen Leiters Frank Arnesen durchsetzt, steigt er bei den Anhängern zum Heilsbringer auf.
Rückkehr von van der Vaart entpuppt sich als Flop
Doch Kühnes Einschätzung, der HSV könne mit van der Vaart zurück an die Spitze des deutschen Fußballs klettern, entpuppt sich als falsch. Den Absturz in den Abstiegskampf kann auch der niederländische Nationalspieler nicht verhindern: In der Saison 2013 / 2014 erreichen die Hamburger mit gerade einmal 27 Punkten die Relegation und retten sich nur dank der Auswärtstorregel.
Unter den Mitgliedern des HSV herrscht trotzdem Euphorie, denn eine Kampagne namens "HSVPlus" verspricht die Ausgliederung der Profifußballabteilung, schlankere Strukturen und die Rückkehr eines alten Fanlieblings: Dietmar Beiersdorfer. Er wird Vorsitzender des Vorstandes und soll den Neuaufbau des Vereins vorantreiben.
Allerdings plagen den HSV erhebliche finanzielle Probleme. Immer mittendrin statt nur dabei ist wieder einmal Kühne, der nie zu einer Entlastung der wirtschaftlich angeschlagenen Lage beigetragen hat, sondern durch Einmischungen und öffentliche Statements für Unruhe und ständige personelle Wechsel sorgt. So handelt er beispielsweise den Gesamtwert der HSV Fußball AG nach der Ausgliederung der Profifußballabteilung in eine Aktiengesellschaft 2014 von zunächst angepeilten 400 Millionen Euro auf 250 Millionen herunter und sichert sich somit Anteile zu einem deutlich günstigeren Kurs.
Weil die Investitionen des HSV in seinen Kader, besonders in der Amtszeit von Beiersdorfer (2014 bis Ende 2016), der über 90 Millionen Euro für Spieler ausgab, schon wieder nicht fruchten wollen, begibt sich der HSV vollständig in die Hände seines Geldgebers. Kühne bestimmt nicht nur über Transfers mit, sondern redet auch bei der Besetzung von Aufsichtsräten rein.
Erstmaliger Bundesliga-Abstieg 2018
Erst nach dem erstmaligen Abstieg aus der Bundesliga im Mai 2018 und der Rückkehr von Bernd Hoffmann versucht sich der HSV langsam aus dieser Umklammerung zu befreien. Das gelingt zumindest kurzfristig, doch der verpasste Aufstieg im vergangenen Jahr und der Verlauf der aktuellen Saison würfeln beim HSV erneut alles durcheinander.
Auch diesmal hat Kühne bei einer Personalentscheidung seine Finger im Spiel: Die überraschende Entlassung des Vorstandsvorsitzenden Bernd Hoffmann Ende März ist maßgeblich auf den Wunsch des 83-Jährigen zurückzuführen, der sich öffentlich für Veränderungen in der Führung des HSV aussprach und den ehemaligen Profi Marcell Jansen in einer leitenden Position empfahl.
Jansen war es auch, inzwischen zum Boss des Aufsichtsrates aufgestiegen, der mit seiner Stimme gegen Hoffmann den Umsturz möglich machte. Hoffmann war Kühne schon lange ein Dorn im Auge, weil er den HSV von seinem Geldgeber emanzipieren wollte. Nun steht Kühne wohl selbst vor einem Ausstieg und hinterlässt bei seinem Klub das größtmögliche Chaos und eine ungewisse Zukunft.
Ohne finanzielle Unterstützung wird es für den HSV kaum möglich sein, eine konkurrenzfähige Mannschaft auf die Beine zu stellen. Wegen der Corona-Krise fehlen den Hanseaten wichtige Einnahmen aus dem Ticketing und dem Verkauf von Logen an VIP-Kunden. Außerdem kündigte Hauptsponsor Fly Emirates an, von einer vorzeitigen Kündigungsklausel Gebrauch machen zu wollen.
Der HSV steht nach dem erneut verpassten Aufstieg in die Bundesliga vor einem Scherbenhaufen und riesigen wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Aussichten auf eine Besserung sind düster, andererseits böte der angekündigte Rückzug von Kühne auch eine Chance auf einen echten Neuanfang ohne Einflussnahme von außen.
Dann müssten sich die Fans wohl auf viele weitere Jahre Zweitklassigkeit einstellen.