Für einen liebevollen Umgang mit Schiedsrichter war die spanische Presse ohnehin noch nie berühmt. Nicht auf nationaler - und schon gar nicht auf internationaler Ebene. Wenn Teams von der iberischen Halbinsel in der Champions League verlieren, wird die Schuld gerne in erster Linie bei den Unparteiischen gesucht. So auch nach dem denkwürdigen Halbfinale zwischen Inter Mailand und dem FC Barcelona, in dem die Katalanen knapp ausschieden.
Deutscher Schiri-Experte kanzelt Flick und Co. ab!
Schiri-Kritik: DFB-Experte reagiert
„Nach einem 0:2-Rückstand überstand Barça die skandalöse Schiedsrichter-Leistung von Marciniak“, polterte die Mundo Deportivo, die spanische Zeitung Sport jubelte über ein „epochales Spiel, das nur durch den polnischen Schiedsrichter (Szymon; Anm. d. Red.) Marciniak mit mehreren Entscheidungen zuungunsten der Mannschaft von (Hansi) Flick getrübt wurde." Auch Flick selbst und einige Spieler gingen mit Marciniak hart ins Gericht - was der ehemalige Bundesliga-Referee Lutz Wagner nicht nachvollziehen kann.
Die harsche Kritik sei “absolut überzogen”, schildert Wagner bei SPORT1 und fügt hinzu: “Man muss sagen, dass Marciniak das Spiel insgesamt sehr gut geleitet hat. Auch wenn er den ersten Elfmeter nur mit Hilfe des VAR ahnden konnte, denn es war sehr schwierig und nur von der Hintertorkamera zu erkennen. Beim zweiten Strafstoß war es ebenfalls eine schwierige Innerhalb/außerhalb-Entscheidung, die auch nur der VAR lösen konnte. Beide Situationen fielen am Ende nicht ins Gewicht."
“Nur bei einer Sache habe ich mich gewundert”
Erst sorgte ein Zweikampf in der 43. Minute für Aufregung, als Pau Cubarsi im Strafraum gegen Lautaro Martinez rustikal, aber vermeintlich sauber zum Ball ging. Doch nach Ansicht der Videobilder entschied Marciniak anders und gab zu Recht Elfmeter. Das tat er auch, als Henrikh Mkhitaryan Lamine Yamal in der 70. Minute klar zu Fall brachte. Allerdings fand das Foul außerhalb des Sechzehners statt, Marciniak revidierte seine Meinung nach Intervention des VAR und ließ einen Freistoß folgen.
“Nur bei einer Sache wunderte ich mich wirklich, als er relativ schnell pfiff. Das gab es nämlich schon einmal”, sagt Wagner und meinte damit die Nachspielzeit in der ersten Halbzeit der Verlängerung. Inter führte zu diesem Zeitpunkt bereits mit 4:3 und startete noch einen Angriff. Alessandro Bastoni spielte einen Pass auf Nicolo Barella, der plötzlich allein vor Barca-Keeper Wojciech Szczesny stand. Aber bevor Barella abziehen konnte, schickte Marciniak beide Teams in die Pause. Das San Siro flippte aus, Inter-Trainer Simone Inzaghi musste zurückgehalten werden.
Eine Szene, die sich in verblüffender Ähnlichkeit bereits in der vergangenen Saison abgespielt hatte. Damals standen sich Real Madrid und der FC Bayern im Halbfinale gegenüber. Nach einem 2:2 im Hinspiel führten die Spanier im Rückspiel kurz vor Schluss mit 2:1 - als FCB-Verteidiger Matthijs de Ligt den Ausgleich markierte. Vermeintlich. Denn Marciniak hatte den Angriff zuvor wegen einer angeblichen Abseitsstellung abgepfiffen. Dem VAR waren durch den frühen Pfiff die Hände gebunden, der Treffer zählte nicht - und die Münchner schieden aus. Nun kommt das Missgeschick in Mailand hinzu.
“Ich glaube, er hatte den Halbzeitpfiff gedanklich schon getätigt, als der Angriff begann. Er merkte gar nicht mehr, dass Inter auf dem Weg nach vorne war. Das war natürlich schon eine Riesenchance, die er ihnen genommen hat. Vom Regelwerk her kann man das nicht beanstanden, weil er jederzeit abpfeifen kann, wenn er der Meinung ist, dass die Zeit abgelaufen ist”, sagt Wagner: “Aber welcher Schiedsrichter macht das, in diesen Angriff hineinzupfeifen? Wenn man schon 105 Minuten gespielt hat, kommt es auf die vier, fünf Sekunden auch nicht mehr an”.
Schiedsrichter-Ansetzungen sind “kein Wunschkonzert”
Da habe Marciniak “extremes Glück” gehabt, konstatiert Wagner und stellt fest: “Hätte Inter verloren, hätten sie die Szene sicher aufgemacht.” So aber hat er für den Referee mehr Lob als Tadel übrig: “Das Spiel ging über 120 Minuten plus Nachspielzeit. Es gab viele, viele knifflige Entscheidungen, es ist eine Menge passiert. Wenn man will, findet man immer etwas. Er hat die Partie aber im Griff gehabt und trotzdem dem Spiel seinen Lauf gelassen. So ist es richtig, so machte er dieses Fußballspektakel überhaupt erst möglich.”
Am Ende rede man „über drei einzelne Szenen, von denen zwei sogar mit Hilfe des VAR richtig gelöst wurden”, ergänzt Wagner und weist die entstandene Kritik an der Ansetzung des Unparteiischen aufgrund der Vorkommnisse im Vorjahr entschieden zurück: “Was hat das Spiel Real gegen Bayern mit der Ansetzung bei Inter gegen Barcelona zu tun? Gar nichts. Man würde bei jedem Schiedsrichter der Welt Dinge finden, die in der Vergangenheit falsch gelaufen sind, wenn man danach sucht.”
Für Wagner steht deshalb außer Frage: “Auf dieses Niveau sollte man sich nicht herablassen. Die Ansetzungen der Schiedsrichter sind neutral und kein Wunschkonzert. Die UEFA legt fest, wer leistungsmäßig am besten für diese großen Spiele geeignet ist. Es geht nicht darum, welche Mannschaft mit welchem Schiedsrichter am meisten gewonnen hat”, betont der DFB-Regelexperte abschließend.