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Ein grauenvoller Fußball-Tag, der lange totgeschwiegen wurde

Als ein Stadion zur Todesfalle wurde

Am 23. Juni 1968 kamen in der späteren WM-Finalarena in Buenos Aires über 70 Menschen bei einer Massenpanik ums Leben. Die Katastrophe wurde lange kaum aufgearbeitet.
Das Estadio Monumental de River Plate bei der Eröffnung der Fußball-WM 1978
Das Estadio Monumental de River Plate bei der Eröffnung der Fußball-WM 1978
© IMAGO/Sven Simon
Am 23. Juni 1968 kamen in der späteren WM-Finalarena in Buenos Aires über 70 Menschen bei einer Massenpanik ums Leben. Die Katastrophe wurde lange kaum aufgearbeitet.

Es war die schlimmste Katastrophe in der Geschichte einer großen Fußballnation - und über Jahrzehnte hinweg ein totgeschwiegenes Tabuthema.

Am 23. Juni 1968, heute vor 57 Jahren, kam es im Estadio Monumental in Buenos Aires, dem Stadion von Argentiniens Rekordmeister River Plate, zu einer Massenpanik mit Dutzenden Todesopfern.

Mehr als 70 Menschen, fast alle Fans des Erzrivalen Boca Juniors, kamen ums Leben, wurden in der legendären Stätte des WM-Finals 1978 zu Tode gequetscht. Mindestens 200 weitere Personen wurden beim Versuch, das Stadion zu verlassen, schwer verletzt. Die offizielle Zahl der Todesopfer lag bei 71, doch die eigentliche Zahl geht wohl darüber hinaus. Das Durchschnittsalter der registrierten Todesopfer beträgt gerade einmal 19 Jahre.

Die Tragödie von Tor 12 (Puerta 12) ist ein Trauma, das auch fast 60 Jahre danach noch nachwirkt - auch wegen der vielen unbeantworteten Fragen rund um die menschlichen Schicksale.

Wieso mussten mindestens 71 Menschen sterben?

Es gibt viele Hypothesen darüber, was im Tunnel vor Tor 12 passiert ist - die meisten von ihnen widersprechen sich.

Gewiss ist, dass die Boca-Fans nach einem langweiligen und torlosen Klassiker unmittelbar nach Abpfiff geschlossen die Tribuna Centenario hinuntergingen und im Zuge waren, das Stadion zu verlassen.

Dort stiegen die Gästefans eine Reihe von Treppen und Podesten hinab. „Bis zur letzten Ausreißergruppe waren wir dicht beieinander, ein typischer Ausgang aus dem Stadion. Es gab kein Licht, nur eine 25 Watt Glühbirne im letzten Abschnitt. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, ich wollte schnell da raus, da war eine seltsame Stimmung“, schilderte der Überlebende Alberto Villegas.

Auf der letzten Treppe vor dem Ausgang Tor 12 brach dann plötzlich Panik aus, der Weg nach draußen war - aus nicht restlos geklärten Gründen - versperrt. Der Druck der ausströmenden Menge ließ die Situation eskalieren.

„Die Tragödie hinterließ erschütternde Bilder: die blutverschmierte Treppe des letzten Tunnels, die Leichen auf dem Bürgersteig, Verletzte im Kampf gegen den Tod. Mit dem Verstreichen der Zeit wurde den Menschen erst so wirklich bewusst, welch Ausmaß die Tragödie hatte“, schrieb die Zeitschrift El Gráfico.

Szenen des Grauens in Buenos Aires

Miguel Durrieu, zum Zeitpunkt der Katastrophe gerade einmal 14 Jahre alt, überlebte die beispiellose Tragödie - die Szenen des Grauens haben sich ihm eingebrannt.

„Es war eine Lawine von Menschen die hinausströmte. Personen flogen durch die Luft, ohne den Boden zu berühren“, erzählt Durrieu im Interview mit der überregionalen Zeitung Clarín: „Die Lawine stoppte plötzlich. Es wurde immer enger. Es gab Schreie der Panik, große Angst. Wir lagen alle übereinander, uns fehlte die Luft zum Atmen. Ich fiel irgendwann in Ohnmacht. Ich wurde wie durch ein Wunder gerettet."

Der Vorfall wurde untersucht und die beiden River-Plate-Manager Américo Di Vietro und Marcelino Cabrera für kurze Zeit verhaftet. Der schreckliche Verdacht: Der Verein könnte die Gästefans absichtlich eingesperrt und die Katastrophe grob fahrlässig verursacht haben. Die Zeugenaussagen vor Gericht ergaben jedoch, dass die Türen offen gestanden, die Drehkreuze entfernt worden waren.

Fünf Monate später wurden Di Vietro und Cabrera von der Kammer VI der Berufungskammer für Straf- und Strafvollzugsangelegenheiten endgültig freigesprochen und die gegen sie verhängte Geldstrafe in Höhe von 200 Millionen argentinischen Pesos (ca. 150.000 Euro) wieder aufgehoben.

William Kent, damaliger Präsident von River Plate, behauptete wiederum, dass Provokationen der Anhänger Auslöser des Desasters waren: „Die Fans urinierten in Kaffeebecher und bewarfen damit die berittene Polizei, was zu Gewalt und schlussendlich auch zu der Tragödie führte“, schilderte er.

Panik wegen Polizeiversagen?

Ob provoziert oder nicht: Journalistische Recherchen viele Jahre nach der Katastrophe erhärteten den Verdacht, dass die Tragödie von Tor 12 auf ein verhängnisvolles Polizeiversagen zurückzuführen war.

Journalist Pablo Lisotto schreibt in seinem 2023 veröffentlichten Buch „Una tarde de junio“ („Ein Nachmittag im Juni“), dass Beamte versucht haben sollen, den Ausgang für die Menge zu blockieren. „Das Tor war nicht verschlossen - wäre es verschlossen gewesen, hätte der Druck der Menschenmenge es geöffnet“, ist sich Lisotto sicher.

„Hinter der Polizeiblockade standen berittene Beamte, die mit Schlagstöcken auf die Fans einschlugen und eine Panik auslösten. Die Fans mussten sich entscheiden, ob sie geschlagen werden oder sich auf die Treppe zurückziehen wollten“, erklärte Lisotto.

Dadurch soll es zu einer Art Ziehharmonikaeffekt in der Menschenmasse gekommen sein, Menschen erstickten, wurden totgetrampelt, zerquetscht. So schlimm, dass viele Leichen auch für die Angehörigen nicht mehr zu erkennen waren. Nach Lisottos Erkenntnissen gab es wohl mehr als 100 Tote.

Totgeschwiegen über Jahrzehnte

So detailliert wie Lisotto haben sich die Argentiniens Verantwortliche in Sport und Politik lange nicht mit der Tragödie auseinandergesetzt: Sie wurde als Tabuthema behandelt, selten thematisiert und lange kaum aufgearbeitet.

Die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit spielten eine Rolle: Argentinien war zwischen 1966 und 1973 und nochmals von 1976 bis 1983 eine Militärdiktatur, keine offene Gesellschaft. Auch danach jedoch mussten sich die Funktionäre der betroffenen Klubs River Plate und Boca Juniors lange vorwerfen lassen, die Tragödie verdrängt und das Andenken an die Verstorbenen wenig gewürdigt zu haben.

Erst mit viel zeitlichem Abstand änderte sich die Situation, auch durch gesellschaftlichen Druck von Angehörigenverbänden.

Im Jahr 2008 errichtete River Plate eine Gedenktafel für die Opfer, am 50. Jahrestag der Katastrophe baten auch die Boca Juniors die Angehörigen um Entschuldigung, das Gedenken an die Opfer lange vernachlässigt zu haben. Seit 2021 hängt auch in der La Bombonera eine Erinnerungstafel.