In der zehnten Reihe der Mainzer Haupttribüne, direkt vor den VIP-Logen auf der Pressetribüne, hat einst immer der heutige Bundesliga-Trainer Martin Schmidt gesessen.
Tuchel: Gefangener seines Anspruchs
Und mit beiden Händen oft genug vor Begeisterung auf den Tisch geklopft, weil der Schweizer von oben so gut beobachten konnte, was unten am Spielfeldrand sein großes Vorbild trieb: Thomas Tuchel.
Tuchel eckt an
Schmidt war damals Coach der zweiten Mannschaft des FSV Mainz 05, während der Cheftrainer von Borussia Dortmund noch das Bundesligateam der Rheinhessen verantwortete.
Die Verbindung zwischen beiden war eng und die Beziehung gut - denn wenn es um fußballfachliche Fragen ging, dann war ja niemand profunder als der schwäbische Taktiktüftler, der sich einst von Ralf Rangnick inspirieren ließ.
Doch schon in Mainzer Zeiten hatten viele mit Tuchel so ihre (zwischenmenschlichen) Probleme. Weil er ihnen zu kalt, zu unnahbar daherkam. Der erste, der diese Distanz öffentlich ausdrückte, war der leutselige Präsident Harald Strutz, der mit dem Charakter seines Trainers nie wirklich warm wurde.
Und daraus auch keinen Hehl machte, als Tuchel im Sommer 2014 die Brocken hinwarf, um sich eine Auszeit zu verordnen. Die Kritik, die Strutz später wiederholt äußerte ("Ich habe kein Verhältnis zu ihm"), könnte eine Schablone für das sein, was sich nun auch in Dortmund abspielt.
Tuchels Kritik nach der 1:2-Schlappe bei Eintracht Frankfurt - mit Eiseskälte vorgetragen - trug eine Radikalität in sich, die einen Mangel an Einfühlungsvermögen verriet. Sicherlich, Profis müssen für ihre Fehler gerade stehen, aber Tuchel hat sich angreifbar gemacht, weil er sich indirekt selbst von jedweder Schuld freisprach.
Gefangener seines eigenen Anspruchs
Warum baute der 43-Jährige ohne Grund eine imaginäre Mauer zwischen sich und der Mannschaft? Private Wegbegleiter, die ihn abseits des Fußballs mit Frau Sissi und den Kindern Emma und Kim erleben, schildern einen aufgeräumten Familienvater, der sich Zeit zum Zuhören nimmt. Warum vergisst er als Fußballlehrer Eigenschaften wie Empathie?
Enge Vertraute schildern ihn als Gefangenen seines eigenen hohen Anspruchs. Auf dem Trainingsplatz kann Tuchel laut und unbequem sein. "80 Prozent meiner Wachzeit verbringe ich mit Fußball", hat er einmal verraten.
Bisweilen wirkte Tuchel schon in Mainz oft wie ein Getriebener seines eigenen Anspruchs, das macht ihn für seine direkte Umgebung oft anstrengend. Seine Arbeitsweise beschrieb er einmal so: "Ich gebe den Spielern nur das Werkzeug an die Hand. In den Werkzeugkasten greifen müssen die Spieler selbst." Aber wehe, sie greifen statt der Zange den Hammer.
Tuchel und die Schiedsrichter
Nicht nur einmal arbeitete sich Tuchel nach seiner Beförderung von den Mainzer A-Junioren in der Bundesliga an den Referees ab, um seinen Frust loszulassen, wenn einer seiner Matchpläne nicht aufging.
Doch dieses Ventil wurde irgendwann (von Manager Christian Heidel) verschlossen. Sportdirektor Michael Zorc Vorstandschef Hans-Joachim Watzke brauchten lange, bevor sie sich hinter Tuchel stellten. Erst am Mittwoch erklärte Watzke via Bild: "Wem, wenn nicht Thomas Tuchel, soll es zustehen, die Leistung und die Herangehensweise der Spieler zu kritisieren?"
Das Führungsduo weiß trotzdem sehr wohl: So oft kann ein Trainer nicht überziehen, ohne bei seinen Spielern an Glaubwürdigkeit zu verliehen. Das Binnenklima ist gefährdet, wenn stimmt, was BVB-Akteure hinter vorgehaltener Hand erzählen: dass Tuchel weitaus weniger mit ihnen spricht als in der Vorsaison.
Das wird dann zum Problem, wenn er so abfällig über sie urteilt wie vergangenen Samstag. "Taktisch, technisch, mental – ein einziges Defizit", ätzte der BVB-Coach vor drei Tagen.
Gladbachspiel als Gradmesser
Das Heimspiel gegen die Borussia aus Mönchengladbach (Sa., 15.30 Uhr LIVE in unserem Sportradio SPORT1.fm und im LIVETICKER) wird nun zum Gradmesser, wohin sich die Stimmung bei den Schwarz-Gelben entwickelt. Auch in Bezug auf Thomas Tuchel.
Die Achterbahnfahrt in der Bundesliga, von Tuchel genervt als "einziges Auf und Ab" tituliert, zu beenden, scheint fast wichtiger, als in der Champions League als Erster weiterzukommen. Darüber entscheidet in einer Woche die Partie bei Real Madrid (Mi., ab 20.45 Uhr LIVE in unserem Sportradio SPORT1.fm und im LIVETICKER).
Auf lange Sicht bleibt keine Wahl, dass Trainer und Spieler wieder eine verlässliche und vertrauensvolle Arbeitsgrundlage finden. Denn irgendwann nur noch von Vertretern seiner Zunft – wie etwa Martin Schmidt - angehimmelt zu werden, reicht auf Dauer nicht für Thomas Tuchel.